
Weihnachten hinter Gittern: Ein Häftling erzählt aus seinem Alltag
In der Justizvollzugsanstalt Witzwil gibt es Insassen, die über ein Jahrzehnt ihres Lebens dort verbringen. Wie ist es, Weihnachten ganz alleine und getrennt von der Familie zu feiern?
21.12.2023, 11:03
«Gefängnis bleibt Gefängnis, auch wenn man zum Arbeiten nach draussen gehen kann», sagt der Mann an der Kasse des Hofladens der JVA Witzwil. «Man ist immer noch eingesperrt.» So sei auch Weihnachten in keinem Gefängnis etwas Schönes. Er ist gross gewachsen, grauhaarig und gepflegt und erklärt mit ernster Miene, was er hier im Laden alles zu tun hat. Nennen wir ihn Alexander W.
Alexander W. ist über 50 Jahre alt und seit zweieinhalb Jahren in der JVA Witzwil. In dieser Zeit hätten sich für ihn – wie bei einem Adventskalender – immer wieder Türen geöffnet, so sagt er.

Im besten Fall verbringt er noch die nächsten sechs Jahre im Seeland. Dann sind zwei Drittel seiner Haftstrafe abgesessen und er kann – sofern sein Vollzug weiterhin gut verläuft – Witzwil verlassen.
Witzwil in Farbe
Wegen eines Delikts wurde er zu einer langen Haftstrafe verurteilt, mehrere Jahre davon hat er in Untersuchungshaft in einem anderen Gefängnis abgesessen. Vorher war er noch nie in einem Gefängnis, deswegen ist die U-Haft sein einziger Vergleich zu seinem aktuellen Setting.
«Die U-Haft war schrecklich, man war isoliert in einer komplett grauen Welt, ohne jegliche Farbe.» Höchstens ein kleines Stück blauen Himmel habe er ab und zu sehen können. 40 Monate musste W. so verbringen. Alleine essen, eine Stunde frische Luft pro Tag und kein Kontakt zur Aussenwelt.
«Als ich in Witzwil ankam, bekam mein Leben wieder Farbe», beschreibt W. seine Ankunft. Es sei ein regnerischer und windiger Tag gewesen, und dennoch sei er überwältigt gewesen, habe er wieder mal das Wetter in seinem Gesicht spüren können. Damals habe er gespürt, dass für ihn «wieder eine Türe aufgegangen» sei: «In Witzwil gehen ständig Türen auf, wenn man denn nur will.» Sofern man sich an die Regeln hält also.

Langweiliger Weihnachtsabend
Die ersten vier Monate verbrachte er im geschlossenen Vollzug, ehe er in die Werkstätten und auf die Felder zum Arbeiten gehen durfte. An seinem allerersten Morgen bei der Arbeit sagte sein Chef zu ihm, dass sie jetzt erst mal das Velo holen gehen würden. «Ich dachte, ich sei im falschen Film. Ein Fahrrad im Gefängnis?»
Er startete mit einem Job in der Gärtnerei, der ihm sehr gefiel, obwohl er vorher gar nichts mit dem Gärtnern am Hut hatte. Später wechselte er in den Laden. Erst mit Wehmut, weil er die Gärtnerei vermisste, doch mittlerweile gefällt ihm auch die Arbeit im Laden sehr.

Nun steht die dritte Weihnacht von W. in Witzwil vor der Tür. «Die Weihnacht an sich ist unspektakulär. Die Familie und die Kinder fehlen. Und der Baum», sagt W. Am Weihnachtsabend gebe es lediglich ein gutes Essen, danach verziehe sich jeder alleine in seine Zelle. «Es sind einsame Weihnachten.»
Die Chance packen
Die Vorweihnachtszeit sei dafür umso schöner. Die Häftlinge können Videobotschaften aufnehmen und verschicken und Weihnachtskarten entwerfen. Zudem würden sie Adventskränze basteln und Kerzen ziehen für den Laden sowie Geschenkkörbe zusammenstellen. So komme dennoch eine Art Weihnachtsstimmung auf.
Es gab aber auch eine offizielle Weihnachtsfeier. «Diese war sehr stimmig», so W. Alle Insassen seien in der Aula bei einem Essen zusammengesessen.

Als Langzeitinsasse sieht W. viele andere Insassen kommen und gehen. «Einige kommen dann auch wieder zurück», sagt er. Nicht alle würden aber von den Beschäftigungen in Witzwil Gebrauch machen. «Wenn man eine Chance will, kann man sie hier haben.» Damit meint er: Man kann sich seine Zeit im Gefängnis interessanter und sinnvoller gestalten, als einfach herumzusitzen.
Bibliothekar mit Herz
W. beteiligt sich jedoch rege daran. Einmal die Woche geht er ins Yoga, einmal mit einer Gruppe in den Feldern um die JVA zum Nordic Walking. Und er half, nach den Umbauarbeiten wieder eine Bibliothek aufzubauen. Diese leitet er nun auch – in seiner Freizeit.
«Es ist eine Riesenfreude für mich, wieder mit Büchern und Leuten zu arbeiten», sagt der Akademiker. Das sei wieder eine Tür zu seinem alten Leben mehr, die sich geöffnet habe. Und dennoch seien ihm etliche Türen nach wie vor verschlossen – nicht nur seine Zellentür, die sich Abends um 22 Uhr jeweils schliesst und erst wieder am Morgen aufgeht.
Auch zum Beispiel die Tür zum Internet: Die Insassen dürfen kein Handy oder Laptop haben. W. lebt demnach seit bald sechs Jahren ohne Zugang zum World Wide Web. Sie könnten zwar eine, zwei Stunden pro Woche einen PC mit Internetzugang nutzen, allerdings sei das nicht dasselbe: «Wenn ich etwas googeln will, muss ich dafür dann eine Woche warten», erklärt W.
Sprung der Technik verpasst
Er habe die massiven Entwicklungen in der Technik der letzten sechs Jahre kaum mitbekommen und sei nicht mehr auf dem neusten Stand. «Als ein Kunde in den Laden kam und fragte, ob er mit Twint bezahlen könne, hatte ich erst mal keine Ahnung, wovon er da redet», sagt W.
«Eigentlich lebe ich hier wie eine Person in den 80ern.» Das mache ihm auch ein bisschen Angst. Dass er da ganz herausfalle, wenn er noch sechs weitere Jahre alle technischen Neuerungen verpasse.

Falls er in ein paar Monaten zum ersten Mal in den Ausgang gehen dürfe, müsse er also überlegen, wo man noch ein Zugticket an einem Automaten kaufen könne. Sein Wunsch wäre, dass diese Türe bald auch noch aufgeht.
In seiner Freizeit liest und schreibt er viel, hat zwei Zeitungen abonniert, um noch mit der Aussenwelt in Kontakt zu bleiben. «Und die Post ist sehr wichtig für mich, das ist meine Verbindung nach draussen», sagt W. Nach wie vor habe er mit rund 30 Personen aus der Zeit vor seiner Haft Kontakt, so bleibe er im Leben. «Die anderen machen schon Sprüche, weil ich jeden Morgen so einen Berg Post bekomme.»
W. dürfte nach diesem Jahr noch mindestens sechs weitere Weihnachten in Haft in Witzwil verbringen. Er wird weiterhin jeden Morgen um 6 Uhr aufstehen, um noch eine Stunde Zeit für sich zu haben, ehe er zur Arbeit in den Laden geht – ausser sonntags, da hat er jeweils frei.