Bei den Wölfen im Tierpark Biel: Wie hält man Zootiere glücklich?
Seit Kurzem hat Biel drei Wölfe. Sie haben sich erstaunlich gut eingelebt, vor allem dank der unermüdlichen Bemühungen des Tierpark-Teams. Was diese sind, zeigt ein Tag mit den Pflegerinnen.
2.10.2023, 11:02
Sieben Uhr früh, das Seeland erwacht langsam. Oben am Bözingenberg ist bereits Hochbetrieb: Im Tierpark Biel schauen die Waschbären verschlafen aus ihren Verstecken, die Bartkäuze suchen sich derweil langsam einen kühlen Schlafplatz und die Sikahirsche scharren am Waldboden nach etwas Essbarem.
Tierpark-Leiter Sven Fässler hat schon die Besuchertoiletten geputzt und gönnt sich einen Kaffee. Seit er Anfang Jahr die Leitung übernommen hat, tut sich einiges am Jurahang: Er konnte bereits drei Mongolischen Wölfen einen neuen Lebensraum bauen und hat noch Grosses vor mit dem kleinen Tierpark.
Kurz nachdem sich Fässler an den Pausentisch gesetzt hat, trifft Lehrtochter Saskia Hess ein. Sie macht sich nach kurzer Lagebesprechung mit dem Chef gleich an die Futtervorbereitung.
Wachteleier und Auberginen
Hess legt ein knappes Dutzend grüne Kübel am Boden der Futterküche aus. Diese sind mit den verschiedenen Tierarten angeschrieben: Murmeltiere, Rothirsche, Steinböcke, Waschbären. Sie beginnt, aus verschiedenen Behältern Futterpellets in die Kübel zu verteilen. Die Waschbären bekommen Insektenpellets, die Sikahirsche pflanzliche – jedes Tier in anderen Mengen.
                                    Danach greift sie in die grünen Gemüsekisten. Diese hat das Tierpark-Team am Vortag bei verschiedenen Grosshändlern abgeholt – gratis, denn die Früchte und das Gemüse können nicht mehr verkauft werden. So bekommen die Tiere, was gerade da ist. In die Kübel mit dem Wildschweinefutter schnippelt Hess Auberginen und Mini-Maiskolben.
Sie versucht dabei stets, möglichst nahe an der Ernährung zu sein, die die Tiere auch in ihrem natürlichen Lebensraum vorfinden. Murmeltiere ernähren sich beispielsweise fast ausschliesslich von Alpenkräutern, so kommen Kräuter wie Dill und Petersilie in deren Kessel. In den Napf der Waschbären stellt Hess liebevoll ein paar Wachteleier – von den Tierpark-eigenen Wachteln.
Unfalltiere im Fressnapf
«Der gefällt mir nicht», beurteilt Hess den fertig gefüllten Napf der Waschbären. Er hat ihr zu wenig Farben, weil gerade kein Salat da ist. Den Waschbären dürfte dies egal sein. «Einer der Waschbären mag die Wachteleier wahnsinnig gerne, die anderen beiden sind eher von den Früchten angetan.» Zwischen die Pellets und die Eier schneidet Hess Äpfel und Birnen in Stücke.
Der Tierpark Biel beherbergt aber auch einige Fleischfresser. Für eine kostengünstige Ernährung dieser muss der Tierpark kreativ sein, denn Fleisch aus dem Grosshandel eignet sich aufgrund der Gewürze und Marinaden oft nicht für Tiere. So hat Fässler eine Partnerschaft mit der Wildhut aufgebaut: Der Tierpark päppelt verletzte Tiere auf, um sie wieder in die Wildnis zu entlassen. Im Gegenzug bekommt der er tote Rehe, die auf den Strassen angefahren wurden.
                                    Für die Eulen und Raubvögel, die im Tierpark leben, kauft der Park einen Tag alte Hühnerküken an. Diese kommen aus der Eierproduktion: Es sind männliche Tiere, die wenige Stunden nach dem Schlüpfen getötet werden, weil sie nicht als Legehennen taugen.
Von altem Brot als Nahrung versucht der Tierpark wegzukommen. Dieses sei wegen des Zuckers nicht gut für die Wildtiere.
Glace für die maskierten Bären
Nun steht die erste Runde durch den Tierpark an. Hess kontrolliert, ob es allen Tieren gut geht und ob alle Zäune intakt sind. Sie beginnt sogleich, das Futter zu verteilen. Als Erstes ist der Waldkauz an der Reihe, er bekommt ein paar Küken. In der Voliere liegt noch ein unangetastetes vom Vortag, dieses wirft Hess in grossem Bogen in das benachbarte Wildschweingehege.
«Die mögen die Wildschweine besonders gerne», sagt sie. Die Säue sind Allesfresser und bedienen sich auch in freier Natur an herumliegendem Aas. Im Lebensraum der Waschbären klettert Hess durch das unübersichtliche Gelände und schaut in allen Verstecken, ob sie die drei Tiere findet. Vorerst entdeckt sie nur zwei, sie schauen mit müden Äuglein aus ihren Unterschlüpfen. «Den dritten finden wir schon noch», sagt sie ruhig.
Die Waschbären bekommen vorerst noch kein Futter, sie werden erst am Abend richtig gefüttert. «Wir haben die Ernährung umgestellt, verstecken tagsüber kleine Futtermengen im Gehege. So sind die Tiere den Tag über aktiv und die Besucher können sie sehen», erklärt Sven Fässler. Die Futterzeiten und -mengen variiert das Tierpark-Team jeden Tag, um repetitives Verhalten zu unterbinden.
Früher hätten sie am Morgen gegessen und sich dann den gesamten Tag in einem der vielen Verstecke verkrochen – nicht ihrem natürlichen Verhalten entsprechend. «Gross gefüttert» werden die Tiere neuerdings erst am Abend, dafür bekommen sie jetzt in Eis eingefrorene Apfelschnitze und Sonnenblumenkerne. Ein Tier macht sich sogleich daran, die Leckereien aus dem Eisblock herauszuarbeiten.
Abwechslung schaffen, wo es nur geht
Man kann die Tiere nicht fragen, ob es ihnen gut geht. Stattdessen schauen Fässler und sein Team darauf, dass sich die verschiedenen Tiere möglichst ähnlich verhalten, wie sie das in freier Wildbahn auch tun würden. «Dort finden sie auch nirgends einen Haufen mit Futter, an dem sie sich satt fressen und dann auf die Faule legen können», sagt er.
So verteilt Lehrtochter Saskia Hess die Pellets für die Gämsen grosszügig im ganzen Gehege. Einige der Tiere folgen ihr neugierig, andere schauen aus der Distanz zu – auch, als sie einmal dem Zaun entlanggeht, um zu überprüfen, ob dieser überall intakt ist. Spätestens aber, als sie die Gämsen in ihrem Lebensraum wieder alleine lässt, suchen alle Tiere nach den Leckerbissen zwischen Laub, Steinen und Wurzeln.
Ein Besucher steigt gerade die letzten Stufen der Treppe aus der Taubenlochschlucht empor und steuert auf Hess zu. «Gleich da unten, nur wenige Meter neben dem Gehege, steht eine Gämse. Ist die ausgebrochen?», fragt er Hess. Diese verneint freundlich – schliesslich hat sie sich gerade selbst vergewissert, dass der Zaun ganz und nirgends ein Baum draufgestürzt ist. «Die Gämsen leben hier im Wald auch wild und kommen ab und zu ihre Verwandten im Zoo besuchen», erklärt sie dem besorgten Besucher.
Lehrtochter Hess macht sich sogleich an ihre nächste Aufgabe an diesem Tag: Sie darf zum ersten Mal einen Lebensraum selbst gestalten, und zwar den der Wachteln. Dazu verfrachtet sie die kleinen Vögel in ein Übergangsquartier, räumt das Gehege leer und schafft einen wohlüberlegten neuen Lebensraum.
                                    Den Fressfeind immer vor den Augen
Solche Veränderungen in der Gehegegestaltung und auch die Besuche von den wild lebenden Verwandten bereichern den Alltag der Tierpark-Tiere, erklärt Tierpark-Chef Fässler. «Das ist wieder etwas Ungewohntes, was Abwechslung bringt.» Das geht aber auch einfacher, als auf Wildtiere zu warten, die den Tierpark besuchen. Das zeigt der neu geschaffene Wolfslebensraum.Dieser grenzt direkt an die Gehege der Sikahirsche, Rothirsche und Wildschweine. In der Natur ist der Wolf ihr grösster Fressfeind. Das sorgt im Zoo auf beiden Seiten der Zäune für viel Aufregung: Die Wölfe beobachten die Hirsche und Wildschweine, während die Leithirsche sich jeweils in der Pflicht fühlen, die Herde zu warnen, wenn ein Wolf in Sicht ist. Das gibt wesentlich mehr Bewegung in den Gehegen.
                                    Die schreckhaften Wölfe versuchen dabei nicht, die anderen Tiere anzugreifen. Vielmehr lassen sich die Raubtiere von diesen zurückscheuchen. «Es gibt immer wieder Neues zu entdecken», so Fässler. «Für alle Tiere ist das hochinteressant, da profitieren beide Seiten.»
Das Gehege der Wölfe ist zudem in zwei Teile unterteilt. So kann das Tierpark-Team steuern, wann die Wölfe wo sein können – und so auch immer wieder neue Dinge zum Entdecken schaffen.Dies kann zum Beispiel auch mit unbekannten Düften erreicht werden: Etwa, wenn die Sikahirsche für ein paar Tage auf einen Teil der Wolfsanlage gelassen werden. «Wir haben auch schon eine Waschbären-Hängematte abgehängt und den Wölfen gegeben. Die fanden diese neuen Düfte spannend und waren eine gute Zeit lang beschäftigt», erklärt Fässler.
Wolfsschule für die Sicherheit
Für die Wölfe ist in Biel gerade ohnehin vieles neu: Sie sind im Zoo Zürich aufgewachsen, in einer Anlage, in die die Besucher von oben herabschauten. Nicht optimal für die Tiere, die in freier Wildbahn gerne auf höher gelegenen und übersichtlichen Standorten weilen, wie Fässler erklärt. Der neue Lebensraum sollte den Ansprüchen der Wölfe also eher entsprechen.«In Zürich waren die Wölfe extrem schüchtern. Hier in Biel sind sie bereits nach ein paar Wochen wesentlich zutraulicher», sagt der Tierpark-Leiter. Auch an den Verkehr der unmittelbar neben dem Gehege verlaufenden Hauptstrasse hätten sie sich gut gewöhnt. «Am Anfang haben sie jedes Mal den Schwanz eingezogen, wenn ein Bus vorbeifuhr.»
                                    «Sie sollen durch das positiv verstärkte Training auf mein Rufen und den roten Eimer trainiert werden», erklärt Fässler. So können die Tiere etwa medizinisch untersucht werden, ohne dass sie mit dem Narkosepfeil betäubt werden müssen. «Immer im geschützten Kontakt», wie Fässler anfügt. Also ohne, dass die Tiere und die Pflegerinnen je gemeinsam im selben Gehege sind.
                                    Ausserdem könne man sie allenfalls im äussersten Notfall zurückrufen. Wenn ein Baum auf den Zaun stürzen sollte etwa. «Unsere Wölfe sind solche Angsthasen, dass sie sich wohl eher von dem umgestürzten Baum fürchten würden», sagt Fässler lachend.
Forschung für die Schafe
Die Wölfe machen auch an Forschungsprogrammen mit. Sie liefern der Wissenschaft Blutplasma und damit wertvolle Daten. Zurzeit helfen sie, einen Duftstoff zu finden, der wilde Wölfe vor Schafherden fernhalten soll.Richtig zu Fressen bekommen die Wölfe im Tierpark ungefähr einmal die Woche, meist durch den Strassenverkehr getötete Rehe. Manchmal aber auch einen Steinbock oder eine Ziege aus dem Zoo, falls diese sowieso sterben oder getötet werden müssen. «Wenn man die eignen Tiere verfüttern kann, weiss man genau, was man hat», sagt Fässler. Welche Medikamente das Tier nahm oder ob es krank war beispielsweise. So schliesse sich der Kreislauf und die Nahrungskette werde eingehalten.
                                    Sonst reichen schon kleine Veränderungen im Gehege, um die Wölfe zu unterhalten, das Umschichten eines Stein- oder Asthaufens etwa. «Diesen positiven Stress verursachen wir bewusst», erklärt Fässler.
Positiver Stress ist es auch, wenn die Tierpflegerinnen an heissen Sommertagen die Tiere mit einem Wasserschlauch abspritzen. Die Rothirsche zeigen sich eher zurückhaltend, während die jugendlichen Keiler die Abkühlung sichtlich geniessen und mit dem Wasserstrahl spielen. Die Hirsche erfreuen sich derweil eher am entstandenen Tümpel und springen darin umher.
Ähnlich sieht es bei den Wachteln aus, die aufgeregt den neuen Lebensraum erkunden. Hess betrachtet gemeinsam mit der Biologin Shani Baumgartner ihr Werk, diese gibt ihr ein Feedback.
Baumgartner komplettiert das dreiköpfige Tierpark-Team. Sie ist erst vor Kurzem dazugestossen und unterstützt, wo sie nur kann. Natürlich beim Füttern und Misten, aber auch bei tausend anderen Dingen, die in einem Tierpark so anstehen.
                                    Naturnah sei der neu eingerichtete Wachtel-Lebensraum, mit vielen Versteckmöglichkeiten und Sandflächen zum Baden. Die künstlichen Strukturen seien besonders gut mit Ästen kaschiert, lobt Baumgartner. «Ob die Wachteln die nun erhöhte Wasserstelle nutzen, musst du die nächsten Tage beobachten», weist sie Hess an.