MenschenSeeland

Sie rettet jede Woche kiloweise Lebensmittel – und gibt sie Bedürftigen

Kathrin Wolf rettete die letzten elf Jahre Esswaren, die sonst im Abfall gelandet wären. Einmal die Woche konnten Bedürftige in Biel diese abholen – für nur einen Franken.


Nicolas Geissbühler (Bieler Tagblatt)

29.12.2024, 21:32

Zwei volle Einkaufstüten voller Markenprodukte, frischer Früchte, Gemüse und Fleisch – für nur einen Franken. Was unglaublich klingt, macht die Organisation Tischlein deck dich einmal die Woche in Biel möglich. Unter der Leitung von Kathrin Wolf aus Ligerz verteilen Freiwillige kiloweise gerettete Lebensmittel an Menschen, die sich solche Dinge sonst nicht leisten können.

Das Haus an der Dufourstrasse, in dem die Nahrungsmittel abgegeben werden, wirkt von aussen alles andere als einladend. Die Fenster sind in den unteren zwei Dritteln foliert, sodass man nicht hereinspähen kann, einzig zwei Beschriftungen verraten: Die Räume gehören der Sozialberatung der Heilsarmee Biel.

Die kühlen Räume dahinter sprühen aber am Dienstagnachmittag jeweils nur so von Leben: Kisten mit Gemüse und Früchten stapeln sich, daneben türmen sich Käseplatten und Schokoladenriegel. Eine grosse Palette mit Markenjoghurt wird gerade hineingefahren, ein Hauch von frischem Brot liegt in der Luft.

Nik Egger

Dazwischen wuseln zahlreiche Menschen umher, alle in eine rote Schürze gehüllt. Sie retten jede Woche kiloweise Lebensmittel – und verteilen diese an bedürftige Menschen für einen symbolischen Franken.

Nik Egger

Eine eher kleine und unscheinbare Frau behält den Durchblick und koordiniert: Kathrin Wolf, Leiterin der Bieler Abgabestelle der Non-Profit-Organisation Tischlein deck dich. Das meiste funktioniert ohne ihr Zutun, alle scheinen ihren Job bestens zu kennen. «Weil wir so ein eingespieltes Team sind», sagt Wolf. «Das ist vor allem ihr Verdienst», ruft eine Kollegin von Wolf dazwischen und deutet mit dem Finger auf die Leiterin.

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«Tischlein deck dich» rettet Lebensmittel von Grosshändlern, die diese nicht mehr verkaufen können. Oft handle es sich dabei um Überproduktionen, die das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) schon überschritten haben oder nahe dran sind. Das MHD sei ein reiner Qualitätshinweis. Viele der Lebensmittel, so Wolf, sind aber noch viel länger geniessbar. Diese werden bei den Grosshändlern abgeholt.

Mehrere regionale Zentralen – die nächste in Grenchen – verteilen die Lebensmittel an die jeweiligen Abgabestellen. Dort werden sie von Freiwilligen kontrolliert, allenfalls gerüstet und bereit für den Verkauf gemacht.

Nik Egger
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Kathrin Wolf ist 75 Jahre alt, doch ihre Haltung ist aufrecht, ihre Schritte sind sicher. Mit ihrer freundlichen und dennoch bestimmten Art, der warmen Stimme und den aufmerksamen Augen hat sie eine Autorität, die Vertrauen schafft. Heute ist sie zum letzten Mal als Leiterin von «Tischlein deck dich» vor Ort.

Seit elf Jahren hilft Wolf einmal die Woche freiwillig bei der Organisation mit, grösstenteils als Leiterin. Eine Freundin habe sie herangeführt, und danach war sie sofort überzeugt – wegen eines tiefen Unbehagens über den sorglosen Umgang mit Ressourcen. «Ich bin selbst Hobbygärtnerin und weiss, wie lange es dauert, bis ein Salatkopf erntereif ist. Der Gedanke, dass solche Mühen einfach im Abfall landen, war für mich unerträglich.»

Nik Egger
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Wolf war fasziniert von der Idee, Lebensmittel vor der Verschwendung zu bewahren. Gleichzeitig schockierte sie das Ausmass: Berge von unverkauftem Brot, Überschüsse an frischem Obst und Gemüse, das nur deshalb aussortiert wurde, weil Konsumentinnen und Konsumenten makellose Optik bevorzugen.

«Wir als Konsumenten müssen bei unseren hohen Ansprüchen zurückbuchstabieren», sagt Wolf. Es könne nicht sein, dass man die Erwartung habe, um 18 Uhr noch in ein Geschäft gehen zu können und aus zehn verschiedenen Brotsorten auswählen zu können.

Diese zehn verschiedenen Brotsorten vom Vorabend stapeln sich nun im Verteilraum, zusammen mit einer grossen Kiste getrockneter Tomaten, sackweise Litschis und veganen Plätzli.

Nik Egger
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Die Freiwilligen teilen alle Waren möglichst gleichmässig auf grosse Papiersäcke auf. Aufgereiht stehen sie an der Wand, jeweils mit Nummern von 1 bis 7 dran. Sie zeigen an, für wie viele Personen die Tüten zusammengestellt wurden. Alles ist genauestens gezählt.

Nik Egger
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Dann kommt die Kundschaft: alleine, mit der ganzen Familie oder paarweise, alle möglichen Leute. Man braucht dazu eine Karte, die man vom Sozialdienst erhält, nachdem dieser abgeklärt hat, ob man Anspruch auf die geretteten Esswaren hat. Es herrscht eine sehr freundliche Stimmung, man kennt sich, lacht viel, bedankt sich.

Manche Menschen suchen das Gespräch mit Wolf und sie erzählt ihnen, dass heute ihr letztes Engagement bei «Tischlein deck dich» sei. Die meisten können es kaum fassen. Sie bedanken sich für die jahrelange Hilfe und die Wertschätzung, die ihnen Wolf entgegengebracht hatte. Eine Dame nimmt Wolf gleich mehrmals herzlich in die Arme, die Dankbarkeit ist spürbar – auf beiden Seiten. Die Augen von Wolf glänzen, wenn sie sieht, wie viel ihre Arbeit den Menschen bedeutet.

Tränen wegen eines Blumenstrausses

Die grosse Dankbarkeit sei etwas vom Schönsten, sagt sie – neben dem guten Gefühl, so viele Lebensmittel zu retten. Sie erzählt von Aktionen, die ihr mehr zurückgeben, als sie geben könnte. Von einer Kundin, die Croutons aus dem geretteten Brot zubereitete und sie als Geschenk an das Team verteilte. Von einer Frau, die weinen musste, als sie von Wolf – erstmals in ihrem Leben – ein Blumensträusschen erhielt. Oder von einer afghanischen Familie, die einen frisch gebackenen Kuchen brachte. «Das sind die Momente, die mich tief berühren.» Dennoch betont sie, man mache es nicht für sich selbst.

Nicht immer ist der Umgang mit Menschen einfach. Selten mal würden Kunden reklamieren oder versuchen, mehr zu bekommen, als ihnen zusteht. Fairness sei ohnehin eines der Themen, die die Freiwilligen am meisten umtreibt. «Es ist eine Herausforderung, gerecht zu bleiben. Aber letztlich geht es darum, dass alle etwas bekommen und die Lebensmittel sinnvoll verwendet werden.»

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Dieses zweiseitige Engagement – der Kampf gegen Foodwaste auf der einen, die Hilfe für Bedürftige auf der anderen Seite – lebt Wolf mit ganzem Herzen. Da die Abgabe wöchentlich stattfindet, sei sie die letzten elf Jahre kaum je länger als sechs Tage am Stück in die Ferien gefahren. «Immer so, dass ich am Dienstag wieder hier sein konnte.»

Kathrin Wolf war schon eine engagierte Persönlichkeit, bevor sie ihre Energie in «Tischlein deck dich» steckte. In den 80er-Jahren half sie, in Biel einen Marktstand mit Bioprodukten aus dem Seeland aufzubauen, und organisierte Vorträge über umweltfreundliches Waschen. Später leitete sie einen Laden für Flüchtlinge, arbeitete als Buchhändlerin und führte während 35 Jahren die Bibliothek von Twann. «Ich war immer jemand, der gerne etwas bewirkt und mit anderen zusammenarbeitet.»

Nik Egger

Dieses Engagement zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. «Ich mache nichts halbherzig», sagt sie. Auch deshalb war für sie klar, dass sie die Leitung von «Tischlein deck dich» nach elf Jahren vollständig abgeben würde. Ihre Gesundheit spielt dabei eine Rolle, sie werde nun erstmals in ihrem Leben kein Engagement im gemeinnützigen Bereich mehr haben. Langweilig werde ihr trotzdem nicht: Mit dem Garten und ihren Enkeln habe sie noch genug zu tun, sagt sie zufrieden.

Jetzt, wo der letzte Einsatz als Leiterin vorbei ist, spricht Kathrin Wolf von Erleichterung – und von Trauer. «Das ‹Tischlein› war wie eine zweite Heimat», sagt sie leise. Sie wird die Dienstagnachmittage vermissen, das Zusammenspiel der Freiwilligen, die Momente der Spannung: «Man kommt hin und fragt sich, was heute wohl für Esswaren kommen, was man heute retten und verteilen darf. Es war immer ein besonderer Augenblick.»

Eine Gruppenumarmung mit dem Lastwagenfahrer

Mit ihr aufhören wird auch ein Urgestein des Bieler Tischleins, die 93-jährige Rosmarie Lehmann aus Evilard. Beide werden immer wieder umarmt und verdankt – zuletzt vom Lastwagenfahrer, der jede Woche die Esswaren aus dem Zentrallager nach Biel fuhr. Er verspricht, sich bald auf einen Kaffee mit den beiden Damen zu treffen, die drei umarmen sich herzlich.

Nik Egger

Kathrin Wolf hinterlässt mehr als eine funktionierende Organisation. Sie hat ein Bewusstsein geschaffen – für den Wert von Lebensmitteln, für den Wert der Gemeinschaft und für die Möglichkeiten, auch mit kleinen Taten grosse Veränderungen anzustossen. Ihre Botschaft bleibt klar: «Mehr Wertschätzung für Lebensmittel – und für das Leben selbst.»

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Nicolas Geissbühler

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