Das gallische Dorf des Seelands: Nicht alles war idyllisch in Meienried
Die Gesamtschule Meienried schloss 1974, doch das alte Schulzimmer hat die Zeit überdauert. Zwei Männer kehren dorthin zurück, wo ihre Kindheit begann. Eine Zeitreise.
31.10.2025, 21:55
«Genau da stand früher unser Pult», ruft Alfred Weyeneth erfreut. Der 75-Jährige steht mit seinem Schulfreund Fritz Käser im alten Schulhaus von Meienried. Die beiden lachen, als sie sich erinnern, wie sie bei schlechtem Wetter für die Turnstunden jeweils die Bänke zur Seite geschoben und gleich im Klassenzimmer geturnt haben. «Das hat jeweils wahnsinnig gestaubt», sagt Käser. Es riecht nach altem Holz und in der Luft schwebt Staub, durch das einfallende Sonnenlicht sichtbar gemacht.
Es ist eine Rückkehr nach 60 Jahren. Damals, Ende der 1950er-, Anfang der 60er-Jahre, drückten die beiden hier die Schulbank und schlossen im Frühling 1965 ab. Obschon die Pulte fehlen, kann man die letzte Schulstunde noch förmlich spüren. Die zwei kleinen Wandtafeln hängen noch, dazwischen eine Luftaufnahme des Dorfes. «Eigentlich ist alles genau so, wie wir es verlassen haben», sagt Käser.
1974, neun Jahre nach dem Schulabgang von Käser und Weyeneth, waren nur noch fünf Kinder übrig. Die Gemeinde schloss das Schulhaus – die Kinder von Meienried besuchen seither den Unterricht in Büren. Diesen Weg kennen auch Käser und Weyeneth: «Ab der achten Klasse mussten wir für Algebra, Turnen und technisches Zeichnen ohnehin schon mit dem Velo nach Büren fahren», sagt Käser.
Die Schule hat von Beginn an einen schweren Stand
Dass die Schule irgendwann schliessen würde, war kein neues Thema. Schon kurz nach dem Bau des Schulhauses 1809 forderte der Statthalter eine Zusammenlegung mit den Nachbardörfern. Doch Meienried blieb standhaft – das Dorf wollte lieber klein und dafür selbstbestimmt sein. Das war auch 150 Jahre später noch so. «Wenn wir fusionieren, haben wir nichts mehr zu sagen», habe der Gemeindepräsident während Käsers und Weyeneths Jugend jeweils gesagt.
Dabei war das Leben an der Mündung von Zihl und Aare nie einfach. Immer wieder zerstörten Überschwemmungen ganze Ernten – vor allem vor den Juragewässerkorrektionen. Doch die Dorfbevölkerung wusste auch Profit aus der speziellen Lage zu schlagen: Sie bot Fährdienste über beide Flüsse an, für die sie Gebühren von Händlern verlangte.
Der Meienrieder Johann Jakob Vögeli schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts in seinen Memoiren, das Dorf habe zwar als arm gegolten, durch die Schifffahrt aber gut verdient. Bauern hätten bis zu acht Pferde und vier Kühe besessen – ein Wohlstand, der im ländlichen Seeland seinesgleichen suchte. Zumindest beschreibt es Vögeli so.
Wer andern eine Grube gräbt, lebt selbst trockener
Doch das Leben in Meienried war hart. So schreibt Vögeli, der Garten des Schulhauses sei von geringem Wert gewesen, da er immer wieder überschwemmt wurde – bis ihn sein Vater mit viel Mühe um rund einen Meter erhöht hatte. So fielen weniger Ernten ins Wasser. Dieses Aufstocken der Gärten schien in Meienried fast schon ein Volkssport zu sein, bei dem etliche mitmachten. So entstanden mehrere Gruben, die noch heute sichtbar sind – von irgendwo musste ja die Erde für die Erhöhung kommen.
Während Vögelis Schulzeit gab es in der Schule übrigens nur Unterricht im Schreiben, Lesen, Rechnen und «Memorieren» – also Auswendiglernen.
1850 lebten über 100 Menschen in Meienried, später wanderten viele aus, nicht wenige nach Amerika. Malaria ging um und der Eisenbahnboom zerstörte das Geschäft mit den Fähren.
Erst mit den Juragewässerkorrektionen – initiiert vom Meienrieder Johann Rudolf Schneider – besserte sich die Situation allmählich, aber nur langsam. Als Weyeneth und Käser hier zur Schule gingen, waren es nur noch rund 60 Einwohnerinnen und Einwohner.
Lehrermangel war in Meienried länger Thema
Schon damals fehlten Lehrpersonen, obschon eine Person alle Fächer von der ersten bis zur neunten Klasse unterrichtete. Gegen Ende ihrer Schulzeit wechselten die Lehrer fast im Quartalstakt: Sechsmonatige Praktika folgten auf dreimonatige Landeinsätze, danach verliessen die Lehrpersonen Meienried jeweils wieder. Das sei eigentlich ganz witzig gewesen, findet Käser heute: «Wenn neue Lehrer kamen, haben wir immer deren Grenzen gesucht», sagt er lachend.
Nicht alles war idyllisch. Weyeneth ist eigentlich Linkshänder – und erinnert sich daran, dass er in der Schule aber nur mit rechts schreiben durfte. «Das spüre ich noch heute: Ich kann fast alles mit beiden Händen gleich gut – ausser schreiben, das geht nur mit rechts.»
Das Leben war einfach, aber streng. Er habe etwa nie neue Kleidung bekommen, musste alles nachtragen, sagt Weyeneth. Auf dem Feld mussten sie oft mithelfen. «Im Sommer, wenn wir auf den Rübenfeldern am Unkrauthacken waren, fuhren die Mädchen aus Orpund auf dem Velo an uns vorbei in die Badi in Büren. Das gab es bei uns nicht – da haben wir ihnen schon neidisch hinterhergeschaut.»
Flosse bauen und «kriegerlen»
Trotz der Entbehrungen blicken sie gern zurück auf die Zeit, in der sie immer draussen gewesen sind. «Wir waren frei», sagt Käser. Sie bauten Flosse und machten die Gewässer unsicher. Oder streiften durch die Wälder und haben «gekriegerlet», wie sie es nennen.
Heute wirkt Meienried fast unverändert – ruhig, mit kleinen Strässchen und alten Bauernhäusern, als hätte jemand das Dorf in ein Museum gestellt. Eine Landwirtin treibt ihre Kühe durchs Dorf, am Wegrand glitzert das Meienriedloch, heute ein Naturschutzgebiet für Wasservögel.
Damals wie heute gab es keinen Laden und keinen ÖV-Anschluss. «Zum Einkaufen mussten wir mit dem Velo nach Büren fahren», erzählt Weyeneth. Nur ein Telefon und ein Fernseher standen im Dorf – beide im «Pintli» an der Aare. «Wenn jemand angerufen hat, musste die Serviertochter durchs Dorf laufen und sagen, wer ans Telefon soll.» Und als General Guisan starb, drängte sich ganz Meienried ins Restaurant, um die Beerdigung live im Fernsehen zu schauen.
«Man wusste alles voneinander», sagt Käser. Das Dorf war eng verbunden – manchmal vielleicht zu eng. «Wer neu nach Meienried zog, war im nächsten Jahr sicher in den Gemeinderat gewählt», sagt Käser lachend. Doch gemeinsam habe man für Meienried gearbeitet. «Meienried wollte nie grösser werden und wurde zum Ballenberg», so Käser. «Das war schon immer so», ergänzt Weyeneth ein bisschen stolz.
Das politische Herz des Dorfes
Entschieden wurde das alles im Schulzimmer – sozusagen im politischen Herz des Dorfes, denn dort wurden Gemeindeversammlungen abgehalten. Und einmal im Monat gab es eine Abendpredigt vom Pfarrer von Büren, erinnert sich Käser.
Käser wollte nach der vierten Klasse in die Sekundarschule, doch im Dorf hiess es: «Wenn du gehst, verlumpt die Gemeinde.» Denn so hätte das Dorf für drei statt nur für zwei Kinder Sekundarschulgeld bezahlen müssen. Also blieb er, machte eine Elektrikerlehre. «Ich habe nie gerne gebauert, war eher an Maschinen interessiert.» In seinem vierten Lehrjahr wurde er zum Gemeindekassier gewählt – und bekam für dieses Amt 300 Franken Lohn pro Jahr. Der Gemeindepräsident bekam lediglich 35 Franken. Käser musste dafür ungewohnte Aufgaben wahrnehmen: «Ich habe mit 18 Jahren den derzeitigen Lehrpersonen den Lohn gebracht. Das war schon speziell.»
Der Chronist von Meienried
Danach Rekruten- und Unteroffiziersschule bei der Militärmusik, später das Ingenieurstudium und schliesslich Berufsschullehrer für Elektroberufe. Heute bezeichnet sich Käser mit einem Augenzwinkern als Hobby-Historiker – und das zu Recht. Ihm ist immerhin zu verdanken, dass die Zahlen der Schulkinder aller Jahre zwischen 1882 und der Schulschliessung 1974 zusammengetragen wurden und zugänglich sind. Eine Heidenarbeit: Er hat knapp 100 Jahre an Schulrodeln – also die Schülerverzeichnisse – durchgeackert und von allen Kindern aus dieser Zeit genau festgehalten, wann wer in welche Klasse ging und bei welchen Lehrpersonen. Eine Arbeit, die sonst wohl niemand gemacht hätte.
Auch Weyeneth zog früh aus. «Wir wollten fort von zu Hause, hier waren wir zu eng aufeinander.» Eine Lehre als Feinmechaniker, später Militär – «Losone-Greni», sagt er stolz. Und dann wortwörtlich in die weite Welt: Stationen in Washington, Dubai und Saudi-Arabien. Zurück in der Schweiz wurde er Versuchsmechaniker – für die damals neue Technologie der Mobiltelefone – und später Brunnenmeister in Grenchen.
Früher war sein Hobby das Segelfliegen, heute fotografiert er lieber. Und wenn er über die Zukunft spricht, wird seine Stimme leiser: «Früher konnte man den ganzen Winter über auf dem Meienriedloch und dem Baggersee Schlittschuh laufen. Heute nicht mehr. Die Klimakrise ist menschengemacht – das beschäftigt mich, auch wegen meiner Grosskinder und den nachkommenden Generationen.»
Keine Turnübungen mehr im Staub
Jetzt stehen die beiden Männer wieder an der gleichen Stelle wie damals – dort, wo ihr Pult stand, wo sie im staubigen Zimmer Turnübungen machten. Durch das Fenster fällt Licht auf die alten Holzbalken. Käser lächelt: «Wir hatten eine schöne Jugend.» Weyeneth nickt. «Dieses Dorfleben gibt es so heute kaum mehr.»
Auf den Wandtafeln im Schulzimmer sind noch Kinderzeichnungen aus späteren Jahren zu erkennen – Überbleibsel aus der Zeit nach der Schulschliessung, als hier noch Einschulungsklassen unterrichtet wurden. Heute tagt die Gemeinde noch immer hier, der Raum bleibt Treffpunkt eines Dorfes, das lange an seiner Schule festhielt.