
Hip-Hop-Grösse Sido in Biel: Gelang der Spagat zwischen Gangster-Rap und radiotauglichem Mainstream?
Der letzte Tag des Lakelive Festivals stand im Zeichen des Hip-Hops. Krönender Abschluss war Deutschrap-König Sido, der eine spektakuläre Show, gespickt mit Hits, ablieferte.
6.08.2023, 12:45
In den 20 Jahren als Solokünstler hat sich bei Paul Hartmut Würdig, so Sidos bürgerlicher Name, einiges an verschiedener Musik angesammelt: Seinen Durchbruch hatte er 2004 mit der Single «Mein Block», seit da war er immer wieder ganz vorne in den Charts. Zuletzt meist mit radiotauglichem Hip-Hop, Beispiele sind «Astronaut» mit Andreas Bourani oder «Tausend Tattoos».
Bei seinem Live-Auftritt am Lakelive Festival in Biel spielte er alle diese Hits. Er versuchte diesen Spagat zwischen den beiden Musikwelten – und konnte das Ganze erst noch in eine fulminante Show verpacken.
Pyros und Joints
Konfetti, Luftschlangen und meterhohe Flammen: Das gehört alles zu einem Sido-Konzert dazu. Man merkt, dieser Mann hat Erfahrung, eine Menge zu packen und mitzureissen. Und es scheint ihm immer noch grossen Spass zu machen, was nach über 20 Jahren im Geschäft alles andere als selbstverständlich ist. Er spielt immer wieder seine «alten» Hits wie «Carmen» oder «Schlechtes Vorbild», dazwischen auch neuere Lieder, die jeweils von einer Sängerin und einem Sänger begleitet werden.

Einige Dinge aus seiner Gangster-Zeit scheint Sido aber nie zu verlieren: seine Aufmüpfigkeit gegen «die da oben» zum Beispiel. So spielt er immer wieder die Menge vor der Bühne gegen die V.I.P.-Tribüne aus – Letztere sind natürlich klar in der Unterzahl. Auch das Kiffen scheint Sido nicht aufzugeben. So sagt er: «Das Schöne an der Schweiz ist, dass hier einem immer Joints auf die Bühne geworfen werden.» Er zündet sich sogleich einen dieser Joints an, raucht ein paar Züge und legt ihn zur Seite.
Etwas Unbehagliches hat es
Etwas Seltsames hat Sidos Wandel über die Jahre schon. So wirkt es leicht bizarr, wenn der Rapper, der im Song davor noch über seine äusserst harte Jugend auf der Strasse sang, im nächsten Lied zu den melodiösen Radiohits über die Bühne hüpft. Man kauft ihm seine Vergangenheit beinahe nicht mehr ab. Dem Publikum aber scheint es durchwegs zu gefallen, alle machen mit. Als er beim Lied «Tausend Tattoos» das Bad in der Menge geniesst, ist die Authentizität wieder hergestellt.
Sido provoziert immer noch gern, das gehört im Hip-Hop auch dazu. So spielt er auch seine sexistisch angehauchten alten Lieder. Das mag gerade in diesen Zeiten der Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann etwas seltsam anmuten, allerdings parodiert Sido diesen kurz darauf gleich selbst.
Als Einziger ohne Band
15 Minuten vor dem geplanten Konzertende verschwindet Sido hinter die Bühne, die Lichter erlöschen. Sogleich beginnen Sprechchöre aus dem Publikum mit «Sido» und «Zugabe». Der Rapper kommt nach einiger Zeit doch wieder auf die Bühne, die Menge jubelt. Sido tritt ans Mikrofon und sagt: «Also eigentlich wollte ich nur meinen Joint holen, den habe ich hier vergessen.» Er hebt diesen vom Boden auf und raucht weiter – während im Hintergrund die Musik wieder zu spielen beginnt. Sido rappt nochmals drei Lieder, ehe er sich endgültig vom Lakelive-Publikum verabschiedet.

Etwas kann man Sido vorhalten: Er ist der einzige Künstler, der an diesem Abend keine Band dabei hat, sondern lediglich einen DJ, die Sängerin und den Sänger. Umso bemerkenswerter ist, dass alle anderen Künstlerinnen und Künstler neben dem MC noch mindestens einen Drummer und einen Gitarristen oder Bassisten auf der Bühne haben – heutzutage überhaupt nicht selbstverständlich im Hip-Hop.
Spagat geschafft?
Sido beweist, weshalb er zu Recht als einer der absolut Grössten im deutschen Rap gilt und eine ganze Generation mitgeprägt hat. Ihm ist der Sprung zwischen dem Gangster-Rap der 2000er-Jahre und dem radiotauglichen Mainstream-Hip-Hop der letzten Jahre definitiv gelungen – sogar an Live-Auftritten.
Neben dem Deutschrap-Urgestein bietet der Hip-Hop-Abend am Lakelive auch eine Palette an Newcomern und gestandenen Stars, wie den Reggae-Künstler Protoje. Mit Nativ spielt auch eine absolute Grösse im Schweizer Rap – und erst noch ein Bieler. Kurz vor seinem Auftritt füllt sich die Zeltbühne beachtlich. «So voll hab ich die Circus Stage noch nie gesehen!», sagt Speaker Remo Widmer begeistert, als er Nativ ankündigt und die Menge aufheizt.

Spektakel vom Chaos-Menschen Nativ
Als der Künstler selbst die Bühne betritt, ist seine Freude, vor Heimpublikum spielen zu können, spürbar gross. «Wir haben nur 50 Minuten Showzeit, wir müssen Gas geben», erinnert Nativ das Publikum – und wohl auch sich selbst. Neben der Freude spürt man auch Nativs Drang, seine Musik zu spielen und mit dem Publikum zusammen zu feiern. Die Show klappt dann nicht ganz so, wie der Bieler sich das vorgestellt hat, einmal muss er sich mit seinem MC besprechen und einen Song auslassen. Dafür performt er mit Spezialgast Dizzy L, ebenfalls Bieler, zwei Songs und bringt einige der Hits aus den S.O.S.-Zeiten, als er noch mit Rapper Dawill zusammen unterwegs war.
Unter sichtbar grossem Zeitdruck und mit grosser Dankbarkeit schliesst er sein Set – mit dem Song «Sira». Vor der Bühne öffnet sich beim letzten Lied der erste Moshpit (der Kreis, der vor Bühnen entsteht und in dem das Publikum tanzt), dieser übersteigt die Dimension der Bühne. «Alles, was nicht Musik machen ist, ist bei mir immer ein Riesenchaos», sagt Nativ während der Show. Und so überzieht der Rapper am Schluss gar einige Minuten. Das Publikum ist ihm deswegen aber alles andere als böse.