
Auf der Jagd nach Luchsen im Simmental
Wölfe, Bären und Luchse werden in der Schweiz genau überwacht. Der Worbener Samuel Kohler macht gerade seinen Zivildiensteinsatz bei der Fachstelle für Grossraubtiere – und spielt Luchs.
30.01.2024, 19:25
Es ist ein eiskalter Morgen. Ein paar Zentimeter Schnee liegen auf dem Boden, über den Bergkämmen schielen langsam die ersten Sonnenstrahlen. Auf dem Parkplatz der Stockhornbahn in Erlenbach im Simmental legt Samuel Kohler eine Karte des Simmentals auf die Motorhaube des kleinen, alten Autos, das er von der Stiftung Kora für seine Feldeinsätze brauchen darf, und zeigt auf eine Nummer. «Das wird unsere erste Fotofalle, die wir kontrollieren müssen», sagt er.
Sie liegt ein gutes Stück weiter oben im Tal, in der Nähe von Zweisimmen. Der Worbener überprüft die Kameras im Rahmen seines Zivildiensteinsatzes bei der Stiftung Kora, die sich mit den Grossraubtieren in der Schweiz befasst. Also mit Wolf, Bär und eben Luchs. Dazu kommen noch Arbeiten zu Wildkatze und Goldschakal, die zwar keine Grossraubtiere sind, jedoch auch von Kora überwacht werden.
Luchse in der Schweiz
Ursprünglich war der Luchs in der ganzen Schweiz verbreitet. Die intensive Jagd und die Zerstörung der Wälder liessen ihn unter anderem hierzulande aussterben. Die letzte historische Beobachtung erfolgte 1904 auf dem Simplonpass.
1967 fasste der Bundesrat den Entschluss zur Wiederansiedlung. 1971 wurden die ersten Luchspaare aus den Karpaten im Kanton Obwalden freigelassen. Weitere Freilassungen
erfolgten kurz darauf im Jura.
Seither haben sich in der Schweiz zwei Luchspopulationen entwickelt, eine im Jura und eine in den Nordwestalpen. Zwischen 2001 und 2008 wurden einige dieser Luchse in die Nordostschweiz umgesiedelt, um die Verbreitung im Alpenraum zu fördern. Bei der letzten Hochrechnung 2019 lebten ungefähr 250 Luchse in der Schweiz.
Der Luchs hat in der Schweiz kaum natürliche Feinde. Die grössten Gefahren sind illegale Tötungen, Kollisionen mit Fahrzeugen und die Fragmentierung der Lebensräume.
Die Standorte für die Fotofallen werden jeweils in enger Zusammenarbeit mit der Wildhut ausgewählt. Kora stellt die Fotofallen jeweils im Winterhalbjahr an Wegrändern auf, weil die Luchse unter anderem die Wege bevorzugen, wenn überall sonst Schnee liegt.

Hinauf ins Nirgendwo
Es werden nur Orte ausgewählt, an denen Luchse erwartet werden, in jeweils wechselnden Grossgebieten. In diesem Jahr sind es das Simmental und das Saanenland im westlichen Berner Oberland und ein paar Täler in der Zentralschweiz.Heute geht es also das Simmental hoch. Erst fährt Kohler in seinem grauen Auto über die Hauptstrasse, danach biegt er auf eine kleine Nebenstrasse ab, ehe es auf einem schneebedeckten Forstweg weitergeht.Plötzlich hält er an. «Wir sind da», sagt er und steigt aus. Zu erkennen ist lediglich ein Hinweisschild, dass hier Fotofallen aufgestellt sind. Erst bei genauerem Hinsehen sieht man auf beiden Seiten des Wegs je einen leuchtend orangen Spanngurt, der um einen Baum gewickelt ist.

Gut getarnte Fallen
Daran angemacht: eine fast unsichtbare Fotokamera, olivgrün und mit Holzimitationen versehen. Sie hat einen Bewegungsmelder, der automatisch ein Foto schiesst, sobald sich etwas im Blickfeld der Kamera befindet.Kohlers Aufgabe ist es nun, die Kamera zu überprüfen sowie die Speicherkarte auszutauschen und die Fotos auszuwerten. Er nimmt die Kamera aus der Schutzhülle und schliesst die Speicherkarte an seinem Handy an.
«Das ist immer das Spannendste», erklärt Kohler. Man wisse nie, was die Kamera abgelichtet hat. Ungeduldig wartet er darauf, dass die Bilder von der Speicherkarte auf das Handy geladen werden.
Frecher Fuchs, hübscher Hirsch
Ein Fuchs mit einem Apfel im Mund, zwei rennende Feldhasen, eine Gämse und ein Hirsch mit stattlichem Geweih sind in die Fotofalle getappt – aber kein Luchs. Dafür etliche Fussgänger und Hunde. Aus Datenschutzgründen löscht eine Software diese Bilder automatisch, sobald sie in die Datenbank eingespeist werden.
Kohler sucht im Schnee nach Pfotenabdrücken von Luchsen und findet auch tatsächlich ein paar Spuren. Er vermerkt alles in einem Protokoll, richtet die beiden Kameras neu aus und testet sie. Aufgestellt werden jeweils zwei pro Standort, damit man die Tiere möglichst von beiden Seiten erwischt. Nur so kann das Individuum definitiv bestimmt werden.

Luchse haben nämlich individuelle Fellzeichnungen. Wie Fingerabdrücke sind diese einzigartig. Und genau darum geht es beim Monitoring: möglichst gut aufzuzeichnen, wo sich welche Luchse bewegen.
Fell wie ein Fingerabdruck
Danach gehts per Auto an den nächsten Standort oberhalb von Boltigen. Ein 20-minütiger Fussmarsch steht an, die Kameras sind im felsigen Gebiet an einem Bergwanderweg installiert. «Da ist einer», ruft Kohler aufgeregt, als er die Bilder ein erstes Mal anschaut. Und tatsächlich ist ein Foto eines besonders schönen Exemplars auf der Kamera.Die Fellzeichnung zeigt ein Muster mit Kreisen, in denen jeweils weitere kleine Punkte sind. «So eine Zeichnung sehe ich nicht alle Tage, dieses Exemplar sollten wir problemlos zuordnen können», meint Kohler.
Das Luchsmonitoring betreibt Kora im Auftrag des Bundes. Es ist Teil des gemäss der Jagdverordnung erstellten Konzepts zum Luchsmanagement in der Schweiz. So sollen die Luchse gezählt und überwacht werden. Daraus können in einem weiteren Schritt Schutzmassnahmen getroffen werden.
Der Luchsimitator
So könnte unter anderem auch erkannt werden, wenn ein Luchs Probleme verursacht. Der Luchs ist diesbezüglich aber wenig problematisch. Er breitet sich nur langsam aus, ist gegenüber Menschen sehr scheu und ernährt sich zu grossen Teilen von Wildtieren wie Rehen.So sei es auch sehr unwahrscheinlich, dass ihm ein Luchs über den Weg laufe, so Kohler. «Wer mal einen sieht, kann sich sehr glücklich schätzen», sagt er. «Es ist aber schon ein Traum von mir, mal einen zu sehen.»
Kohler installiert die Kameras nach der Kontrolle oberhalb von Boltigen wieder. Eine war schlecht ausgerichtet, auf ihr war nur der Rücken des Luchses zu erkennen. Kohler bastelt eine neue Vorrichtung und mimt dann einen Luchs, geht auf allen Vieren vor der Kamera auf und ab – und überprüft die entstandenen Bilder. Er ist zufrieden, es geht wieder talwärts.

Mit Schneeschuhen und Stöcken
Kohler selbst ist Biologiestudent an der Universität Bern und interessiert sich sehr für das Gebiet, das er in seinem Zivildiensteinsatz betreut. Er kann sich gut vorstellen, nach Abschluss seines Studiums einer Arbeit in der Natur draussen nachzugehen – aber dann lieber mit Pflanzen. Das interessiere ihn noch mehr.Am dritten Standort liegt mehr Schnee, rund 30 Zentimeter dürften es sein. Kohler zieht ein Paar Schneeschuhe aus dem Kofferraum seines Wagens und zieht sie an. In seine Hände nimmt er ein paar Stöcke als Stützhilfe im unwegsamen Gelände.

Er macht sich auf den Weg durch den verschneiten Wald zu den gut versteckten Kameras – er muss sie selbst erst ein paar Sekunden lang suchen.
Auch das Büro gehört dazu
Auch auf diesen Kameras sind einige Tiere zu entdecken: Neben den üblichen Verdächtigen wie Hirsch, Fuchs und Hase sind nun auch ein Wildschwein und ein Dachs in die Falle getappt. Und zwei verschiedene Luchse.
Kohler freuts. Nach diesem Tag kann er nach zwei weiteren Stopps mit zehn vollen Speicherkarten in den Kora-Hauptsitz nach Ittigen fahren. Dann muss er einen Bürotag einlegen, um die Bilder zuzuordnen. «Dafür, dass es hier draussen so schön ist, nehme ich das gerne in Kauf», sagt Kohler.