
Der Tierpark Biel will mit zwei Eulen eine ausgestorbene Art retten
Im Tierpark Biel leben seit Kurzem zwei Habichtskäuze. Das Paar hat einen wichtigen Auftrag: Die grossen Eulen sollen in Zukunft Österreich wiederbesiedeln.
22.11.2024, 0:46
Ein krächzender Schrei hallt durch den nebligen Wald am Bözingenberg. Es ist der Ruf der neusten Bewohner des Tierparks, genauer gesagt, des Weibchens davon. Nähert man sich der Voliere, hat man das Gefühl, sie sei leer. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man die beiden Tiere, die gut im Herbstwald getarnt sind.
Sie sehen aus wie ein Stück Birkenrinde mit Flechten. Kommt man näher, dreht sich schlagartig ein Kopf um 180 Grad, zwei pechschwarze Augen beobachten das Geschehen, dazwischen ein spitzer, gelber Schnabel: zwei Habichtskäuze. Das Männchen stammt aus dem Tierpark Goldau und das Weibchen aus der Greifvogelstation Berg am Irchel im Kanton Zürich.

Das Pärchen, das seit einigen Wochen im Tierpark lebt, soll bald eine wichtige Aufgabe übernehmen: nämlich Nachwuchs zeugen. Dieser soll dann in Österreich ausgewildert werden – und so für das Überleben der dort einst ausgestorbenen Vogelart sorgen.
Ein Herzensprojekt
Die beiden Habichtskäuze sind der Stolz von Shani Baumgartner, der Biologin des Tierparks. «Die beiden sind mein absolutes Herzensprojekt», sagt sie.

Auch wenn die Tiere nur «leihweise» in Biel sind: «Wir haben einen Einstellungsvertrag, die Vögel gehören – anders als die anderen Tiere – nicht dem Tierpark», sagt Baumgartner. Heisst: Die österreichische Stiftung Habichtskauz-Wiederansiedlung, die für die Auswilderung verantwortlich ist, darf jederzeit einschreiten. Und etwa die Tiere in einen anderen Zoo verlegen. Die Stiftung koordiniert so auch die Nachzucht und schaut, dass die genetische Vielfalt unter den ausgewilderten Tieren möglichst gross ist. Der Tierpark muss aber die Kosten für Pflege, Futter und den Transport ins Auswilderungsgebiet übernehmen. Auch deswegen sucht der Tierpark noch Sponsoren für das Pärchen.
Die Idee zur Teilnahme am Auswilderungsprojekt stamme vom vorherigen Tierparkleiter, Sven Fässler, der bis Ende Januar in Biel gearbeitet hat, sagt Baumgartner. Sie habe sich dann mit dem Verantwortlichen für die Koordination der Zucht in der Schweiz getroffen und sich ausgetauscht. Schliesslich kam heraus: Der Tierpark Biel könnte einem Habichtskauz-Paar eine passende Voliere bieten.
Turmfalken raus, Habichtskäuze rein
Dann sei der Ball ins Rollen gekommen. In Österreich wurde alles Formelle mit der Stiftung abgehandelt, in Biel bereitete man die Voliere für die Neuankömmlinge vor. Die Turmfalken und die Schleiereulen mussten raus, die Einrichtung etwas umgestaltet werden – und die hintere Seite gar mit Brettern abgedunkelt werden.
«Solche Dinge haben wir aus Goldau und Berg am Irchel mitbekommen. Der Zuchterfolg sei so einfach wesentlich höher», so Baumgartner. Die Stiftung gab dann das Okay, der Lebensraum entspreche den Bedürfnissen der Vögel.

Gut eingelebt hätten sich beide Käuze in Biel schnell – und auch schon erste Annäherungsversuche unternommen, meint Baumgartner. Die Tiere leben in der Natur monogam, haben also ein Leben lang denselben Partner.
Die gefährlichsten Tiere am Bözingenberg
Zumindest das Männchen hat in Biel gar einen alten Bekannten getroffen: den Tierparkleiter Luca Bordoni, der bis Anfang dieses Jahres in Goldau aus Tierpfleger arbeitete. Er hat nicht nur gute Erinnerungen an die grossen Eulen – und trägt gar Narben von den langen und scharfen Krallen. «Sie zählen zu den gefährlichsten Tieren im Tierpark», sagt Bordoni lachend. Sie sind also fast gefährlicher als Wolf, Wildschwein und Rothirsch.
Gerade in der Paarungszeit würden die Vögel ihr Territorium mit allen Mitteln verteidigen. So trägt Bordoni immer eine Kopfbedeckung und einen Rechen, wenn er die Voliere betritt. «Die Vögel greifen den höchsten Punkt an, und wenn man den Rechen über den Kopf hält, gehen sie darauf los.»
Von diesem Wissen kann jetzt sein Team in Biel profitieren.
Nur noch «sinnvolle» Tiere
Auf die Frage, weshalb er so ein Risiko, den Aufwand und die Mehrkosten für einen Transport nach Österreich überhaupt auf sich nimmt, sagt Luca Bordoni: «Es ist wichtig, in Zukunft sinnvolle Tiere im Tierpark zu haben.» Tiere mit Sinn, also entweder solche, die sich, wie der Habichtskauz, auswildern lassen und so zum Arterhalt beitragen, oder solche, mit denen sich Wissen vermitteln lässt.

Ein gutes Beispiel dafür seien die Mongolischen Wölfe. Die lassen sich aus mehreren Gründen nicht auswildern. Aber durch die drei Tiere kann der Wolf, der in der Schweiz immer mehr zum Gesprächsstoff wird, bestens thematisiert werden. Und die Besuchenden können bis auf wenige Meter an die Raubtiere herankommen.
Auch der Rothirsch sei so ein Tier. Die Bestände in der Schweiz seien momentan stabil, sagt Biologin Shani Baumgartner. «Aber solange es noch Menschen gibt, die den Unterschied zwischen einem Reh und einem Hirsch nicht kennen, werden wir sie wohl bei uns haben.»
Steinböcke auswildern?
Etwas überraschend bringt sie auch eine Auswilderung der Steinböcke ins Spiel. Von denen gibt es doch viele in Alpen und Jura.
«Das schon», sagt Baumgartner. «Aber die genetische Vielfalt ist klein, da sie alle von ein paar wenigen Tieren abstammen.» Vor gut hundert Jahren gab es in der Schweiz keinen einzigen Steinbock mehr. Die heutigen Bestände stammen allesamt von denselben 100 Tieren ab, die unter dem Schutz des italienischen Königs überlebten. So gibt es seit einiger Zeit erste gezielte Auswilderungen von Zoosteinböcken, um die Gene in den Herden aufzufrischen. Der Tierpark prüfe derzeit, sich auch dort anzuschliessen, bestätigt Leiter Luca Bordoni.

Tiere, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind, auszuwildern, sei immer so eine Sache, sagt Shani Baumgartner. «Man kann nicht einfach die Tür öffnen und die Tiere in die Freiheit entlassen.» Jagdtrieb und Fluchtinstinkt müssen ausgeprägt sein, daneben müssen sie oft Dinge von ihren Eltern oder anderen Tieren lernen. «Bei den Habichtskäuzen geht das aber relativ einfach.»

Sonderfall «Adoption» durch Wildvögel
Habichtskäuze lernen wenig von ihren Eltern und werden früh selbstständig. Als Jungtiere kommen sie dann in eine Angewöhnungsvoliere im Wienerwald in Österreich, wo sie lernen, lebendes Futter zu jagen. Dann werden sie in die Freiheit entlassen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass etwas Erstaunliches passiert: Die bereits ansässigen Tiere vor Ort nehmen die ausgewilderten Jungvögel unter ihre Fittiche, adoptieren sie sozusagen und zeigen ihnen die ersten paar Monate das Leben in der Freiheit, erklärt Richard Zink, Projektleiter der Wiederansiedlung, in einem Video des Zoos Zürich. «Wenn der erste Frost kommt, vertreibt das ortsansässige Paar die Jungtiere und diese müssen sich – mit allem nötigen Rüstzeug ausgestattet – ihr eigenes Revier suchen.»
Im besten Fall sorgen die beiden Habichtskäuze im Tierpark Biel schon nächsten Frühling für Nachwuchs. Dieser würde dann Mitte Sommer in den Wienerwald gebracht – sofern sich die Jungtiere für eine Auswilderung eignen. Dazu müssen sie nicht nur die genetischen Anforderungen erfüllen, sondern auch scheu sein. Wer sich zu stark an die Menschen im Zoo gewöhnt hat, muss bleiben.
Zootiere auswildern – geht das?
Zoos schreiben sich schon länger Arterhalt auf die Fahne, unter anderem, indem gewisse Arten durch Zoos überhaupt am Leben erhalten werden. Sterben sie in der Wildnis aus, könnte mit den Beständen in Zoos wieder ein überlebensfähiger Bestand in der Wildnis angesiedelt werden, so die Theorie. Beispiele wie die Wiederansiedlung der Bartgeier, der Steinböcke oder der Luchse in der Schweiz bestätigen dies. Auch die Arabische Oryx-Antilope war einst ausgestorben in freier Wildbahn, heute sind die Bestände wieder stabil.
Allerdings ist die Auswilderung oft kompliziert. Bei Menschenaffen zum Beispiel: «Junge Orang-Utans lernen unglaublich viel von ihren Müttern. Bis zu neun Jahre bleiben die Jungtiere bei ihnen, lernen sich im Wald zu bewegen und welcher Baum wann, wo Früchte trägt», schreibt Severin Dressen, Zoodirektor des Zoos Zürich, in seiner Kolumne im «Blick». Aber: Auch bei solchen Tieren würden durch aufwendige Programme immer mehr Auswilderungen gelingen. Im letzten Jahr waren es allein in der Auffangstation Paneco, die der Zoo Zürich unterstützt, 17 Affen gewesen, in den letzten 20 Jahren über 450.
Derzeit gibt es aber auch Grenzen. Tierarten wie Wale, die in hochkomplexen Strukturen leben, etwa. Für den Orca, der die Hauptrolle im Film «Free Willy» besetzte, wurden insgesamt zwischen 20 und 30 Millionen Franken ausgegeben. Am Ende scheiterte eine Auswilderung – wenn auch nur knapp: Mehrmals schwamm der Orca mit verschiedenen Gruppen mit, verlor diese dann aber jeweils wieder.
Zudem gibt es gewisse Arten, bei denen eine Auswilderung unmöglich ist – etwa weil ihr Lebensraum zerstört ist oder in einem Kriegsgebiet liegt.
Kommentar: In der Moderne angekommen – der kleine Tierpark Biel rechtfertigt sein Dasein
Zoos sind umstritten: Reine Tierausstellungen haben heute keine Existenzberechtigung mehr, es braucht mehr. Der Tierpark Biel ist auf dem richtigen Weg, zu den modernsten aufzuschliessen.
Bildung, Naturschutz, Forschung, Artenschutz. Das sind die vier Grundpfeiler des Zoos Zürich, eines der fortschrittlichsten Zoos der Welt. Der Tierpark Biel macht jetzt einen grossen Schritt in diese Richtung. Als erst achter Zoo in der Schweiz beteiligt sich der Tierpark Biel mit einem Zuchtpaar an der Auswilderung einer bedrohten Tierart – und erfüllt damit die letzte der vier Säulen eines modernen Zoos, den Artenschutz.
Die Bildung wird mit Führungen, Tafeln, aber auch mit der physischen Nähe zu Tieren abgedeckt, der Naturschutz findet mit dem jüngst eröffneten Insektenpfad auch direkt im Park statt und wissenschaftliche Forschungen werden immer wieder durch Externe im Tierpark betrieben.
Damit rechtfertigt der Tierpark Biel seine eigene Daseinsberechtigung. Die Zeiten, in denen Zoos reine Tierschauen waren, sind vorbei. Damit ein Zoo heute noch eine Daseinsberechtigung hat, muss er höhere Ziele verfolgen, als bloss den «Jöö-Effekt» bei den Besuchenden und Geld in den Kassen durch möglichst ausgefallene Tiere zu erzielen.
Der Entscheid des Tierparkvereins, nach der Pension des langjährigen Leiters auf junge und progressive Leute zu setzen, die aus den modernsten Zoos der Schweiz nach Biel kamen, war der richtige. Nachdem der Tierpark Biel lange hinterherhinkte und die Unterhaltung das Hauptziel war, ist er nun in der Welt der modernen Zoos angekommen – für die Natur, aber auch für das eigene Überleben. Das braucht es, denn die «alten Zoos» sind nicht mehr zeitgemäss und werden zusehends aussterben.