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Der Bahnhof, den niemand braucht: Wie die ASM 25 Millionen Steuerfranken verlocht

Lattrigen hat einen neuen Bahnhof – mehr als viereinhalbmal so gross wie vorher. Die Bauherren sprechen von Bevölkerungswachstum, obschon in Sutz-Lattrigen immer weniger Menschen wohnen.


Nicolas Geissbühler

22.07.2025, 6:28

Wer über die Hauptstrasse entlang des südlichen Seeufers fährt, sieht zwangsläufig den neuen Bahnhof in Lattrigen. Er hat ein breites Mittelperron und ein auffälliges Dach. Auf der anderen Seite der Gleise erstreckt sich ein grosser Asphaltplatz mit einer umzäunten Sickergrube – einem grossen Loch, in welches das Regenwasser von den Bahnanlagen geleitet wird.

Eine einzige Person mit Rollator steht auf dem Perron und wartet auf den nächsten Zug. Seit dem Neubau sind die Wege für den alten Herrn länger: Rund 200 Meter mehr sind jedes Mal zu bewältigen – für eine eingeschränkte Person eine durchaus relevante Distanz. Ungläubig schüttelt der Mann den Kopf, während der Zug einrollt.

Ist der neue Bahnhof also weniger behindertengerecht als zuvor, obschon die Aare Seeland Mobil (ASM) genau dies zu verbessern versuchte?

Vor dem Bahnhof ist ein grosser Asphaltplatz mit Parkplätzen für Velos und Autos sowie einer Bushaltestelle und einem Sickerloch. Jonas Scheck

«Dermassen überdimensioniert»

«Hier hält wohl bald der TGV», sagt ein Anwohner des Bahnhofs Lattrigen kopfschüttelnd auf der Strasse. «Ein dermassen überdimensioniertes Projekt», fügt er an. «Immerhin können wir jetzt mit London, Paris und Frankfurt mithalten», meint seine Partnerin grinsend. Hört man sich im Ortsteil von Sutz-Lattrigen um, stösst man vor allem auf eines: Unverständnis. «Ein so kleines Dorf braucht doch nicht so einen riesigen Bahnhof», sagt ein weiterer Anwohner.

Schaut man auf die gähnende Leere am Bahnhof, den grossen Asphaltplatz dahinter und die rund 80 überdachten Veloplätze, so drängen sich mehr Fragen auf: Für wen wurde dieses Projekt realisiert? Und warum in dieser Grössenordnung?

Die Baustelle im letzten Sommer in Lattrigen Matthias Käser
Daneben wurde Land als Bauumschlagplatz gebraucht. Matthias Käser

Die Aare Seeland Mobil renoviert die alte Haltestelle seit über anderthalb Jahren. Grund dafür war in erster Linie die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes. Fragt man aber bei der ASM nach, so kommt eine Vielzahl an Gründen dazu: Sicherheit, dem Bevölkerungswachstum gerecht werden, Witterungsschutz für Wartende bauen.

Zwei Haltestellen in einem kleinen Dorf

Fakt ist: Die Gemeinde Sutz-Lattrigen mit rund 1400 Einwohnenden hat zwei Schmalspur-Bahnhöfe, an denen die BTI-Bähnli halten. Die Haltestelle in Lattrigen dürfte dabei vom kleineren Teil der Dorfbevölkerung genutzt werden, weil die Mehrheit näher an der Station Sutz wohnt.

Der alte Bahnhof während der Umbauarbeiten Matthias Käser
Früher konnte man ebenerdig über die Gleise. Matthias Käser

Die ASM selbst spricht von rund 380 bis 400 Menschen, die pro Tag in Lattrigen ein- und aussteigen. Auf 123 Zugfahrten gibt das gut drei Personen pro Zug.

Dass sich diese nicht proportional verteilen, liegt auf der Hand. Ein Augenschein vor Ort zeigt aber, dass selbst zu den Stosszeiten nie mehr als 10 Personen ein- und aussteigen – ausser wenn gerade die Schulkinder aus Mörigen ankommen, aber das ist lediglich zweimal täglich. Die ASM sagt dazu: «Die Morgen- und Mittagsspitze beträgt rund 50 Personen.»

Laut ASM nutzen jeden Tag 380 bis 400 Personen den Bahnhof Lattrigen. Jonas Scheck

Fakt ist auch: Das Gebiet des neuen Bahnhofs ist mehr als viereinhalbmal so gross wie das des alten.

Das rechtfertigt die ASM mit dem Bevölkerungswachstum. Von Wachstum kann in Lattrigen aber nicht die Rede sein: Die Bevölkerung in Sutz-Lattrigen wächst so gut wie gar nicht. In den letzten zehn Jahren sind die Bevölkerungszahlen gar gesunken und derzeit weiter rückläufig.

Grund dafür ist eine restriktive Zonenplanung der Gemeinde. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass sich diese in naher Zukunft lockern wird.

Knacknuss Mittelperron

In Lattrigen kreuzen sich zudem jeweils die Züge, weswegen es ein Mittelperron gab, das nur direkt über die Gleise erreichbar und mit einem knapp zehn Zentimeter hohen Absatz versehen war. Dies musste nun dem Behindertengleichstellungsgesetz angepasst und barrierefrei gestaltet werden. Sprich: Der Absatz musste weg, damit man mit Rollstuhl in den Zug einsteigen kann.

Konkret wurde der alte Bahnhof um rund 80 Meter in Richtung Biel versetzt, mit einer Unterführung samt Treppen, mehreren Rampen und Lift versehen und überdacht. Ausserdem wurde ein neuer Platz gebaut. Darauf findet man nun diagonal über den Platz eine Bushaltestelle, ebenfalls barrierefrei. Und Parkplätze, rund 80 für Velos und eine knappe Handvoll für Autos. Dazu kommen noch sechs neue Mitarbeiterparkplätze der ASM.

Ausserdem wurde die Einfahrt in den Bahnhof, rund 100 Meter vom Bahnhof entfernt, auf beiden Seiten gestreckt, damit die Züge schneller ein- und ausfahren können.

Auf beiden Seiten des Bahnhofs wurde die Streckenführung direkter gestaltet, wodurch mehr Land gebraucht wurde. Matthias Käser

Unterirdisch oder oberirdisch?

Gerade die grosse Unterführung mit Lift, Rampen und Treppen wirft Fragen auf – nicht zuletzt, weil die ASM selbst in Nidau rund ein Jahr davor ebenfalls einen neuen Bahnhof eröffnet hat. Und dieser hat keine Unterführung, sondern einen niveaugleichen Gleisübertritt entlang der Strasse, über den Gleisübergang für Autos, wenige Meter vom Perron entfernt. Fachorganisationen für Menschen mit Behinderung bestätigen: Niveaugleiche Übergänge sind grundsätzlich wünschenswerter als Unterführungen. Letztere seien auch für Menschen mit Behinderung weniger praktisch. Allerdings seien niveaugleiche Übergänge an Bahnhöfen nur unter Auflagen erlaubt. Für Lattrigen sei die Unterführung mit Lift die bestmögliche Lösung, sagt eine am Prozess beteiligte Organisation.

Beim Bahnhof Nidau war ein ebener Gleisübergang möglich: Die Fahrgäste können die Gleise der Strasse entlang queren (am linken unteren Bildrand). David Torres

Weshalb aber nicht einfach ein ebener Gleisübergang wie in Nidau anstatt einer aufwendigen Unterführung? Die ASM sagt, dass dies ohne «massiven Eingriff auf Privatgrundstücke» nicht möglich gewesen wäre. Somit wäre der Bahnhof mit Unterführung «die einzige Option» gewesen. Zudem hätten neue Vorschriften die Verschiebung nötig gemacht. So sei mittlerweile ein sogenannter Durchrutschweg nötig, also eine gewisse Pufferstrecke, die hinter dem eigentlichen Halteort freigehalten werden muss, falls der Zug nicht anhalten kann.

Das klingt alles erst mal schlüssig. Nur zeigt ein Blick ins Grundbuchamt: Alles Land rund um den Bahnhof, das nötig gewesen wäre für einen niveaugleichen Gleisübertritt entlang des Bahnübergangs, gehört tatsächlich bereits der ASM.

Und es gab dennoch Eingriffe auf Privatgrundstücke: Ein Streifen Land von Privaten wurde gebraucht, damit die Strecke aus dem Bahnhof hinaus etwas direkter geführt werden kann, auf der anderen Seite wurden Firmenparkplätze aufgehoben. Ob der Nutzen davon die Landnahme rechtfertigt, sei dahingestellt. Zumindest bisher hat der Bahnhof auch mit wesentlich kurvigerer Ein- und Ausfahrt funktioniert.

Der neue Bahnhof während des Baus Matthias Käser
Daneben wurde einiges an Platz gebraucht, um die Geräte und die Materialien für den Bau zu lagern. Matthias Käser
Auch die bereits ältere Strassenunterführung wurde angepasst und renoviert. Matthias Käser
Ein Lagerplatz für Sand und Kies auf einem Feld südlich der Hauptstrasse Matthias Käser
Die Umleitungen während der Baustelle waren nicht immer ganz eindeutig. Matthias Käser
Matthias Käser
Matthias Käser
Matthias Käser

Die Sache mit den Unfällen

Die ASM spricht auch von einem nötigen Eingriff, um die Sicherheit zu erhöhen und die Unfallgefahr zu senken. Dies sei in Vergangenheit ein Problem gewesen. «Es bestand, aufgrund der nicht mehr gesetzeskonformen Infrastruktur, ein erhöhtes Unfallrisiko.» Über die Anzahl der Unfälle wollte oder konnte die ASM keine Auskunft geben.

Glücklicherweise weiss das Bundesamt für Statistik aber mehr. Auf Anfrage schicken diese eine detaillierte Liste mit allen Zwischenfällen am Bahnhof Lattrigen der letzten 25 Jahre. Ganze neun Stück sind vermerkt, die meisten davon sind irrtümlich überfahrene Signale. Personenunfälle gab es in dieser Zeit – und das bestätigt das Bundesamt für Statistik – keinen einzigen.

Der Bahnhof Lattrigen wurde in den letzten zwei Jahren umgebaut und vergrössert. Matthias Käser

Ausserdem hält der Nachtbus Moonliner in Lattrigen – und zwar ganze vier Busse pro Woche. Diese hielten bislang auf der Hauptstrasse und liessen die Fahrgäste dort aussteigen. Um 2.30 Uhr in der Nacht dürfte dies kaum ein Problem für den restlichen Verkehr gewesen sein, zumal der Bus jeweils nach maximal einer Minute weiterfährt.

Die Bushaltestelle für 4 Busse pro Woche

Zur Bushaltestelle sagt die ASM, dass sie vom Bundesamt für Verkehr angehalten sei, eine behindertenkonforme Haltekante zu errichten, auch für Ersatzverkehr. Dies sei an der Hauptstrasse nicht möglich gewesen.

«Ein solch grosser Platz für so wenige Busse ist absurd – und dann erst noch ohne jegliche Pflanzen», sagt der Anwohner auf der Strasse. Die ASM verspricht, «diverse Begrünungsmassnahmen» umzusetzen, sodass der grosse Asphaltplatz etwas weniger schwarz daherkommt.

Der Fahrplan der Bushaltestelle ist eher leer. Jonas Scheck
Nur vier Busse halten hier jede Woche. Jonas Scheck

Neben der Bushaltestelle sind öffentliche Parkplätze – allerdings augenscheinlich weniger als vor den Bauarbeiten. Dazu sagt die ASM, man habe «zirka» dieselbe Anzahl an öffentlichen Parkplätzen wie vor dem Umbau. Mitarbeiterparkplätze gäbe es gleich viele wie vor den Arbeiten.

Dafür gibt es jetzt rund 80 Veloparkplätze – rund 65 mehr als davor. Zu diesen gebe es keine exakte Berechnung, sagt die ASM. Ziel sei es aber gewesen, «möglichst viele Plätze anzubieten».

Vor Ort zeigt sich: Es dürften zumindest etwas zu viele sein: Tagsüber stehen oft höchstens fünf Fahrräder in den Ständern, die restlichen Plätze bleiben leer.

Die Fahrradplätze. Die ASM sagt, sie wollte «möglichst viele Plätze» anbieten. Jonas Scheck
Viele Geländer für die Treppen und Rampen vor dem Bahnhof Jonas Scheck

Megaprojekt aus Steuergeldern

Während fast zwei Jahren war Lattrigen eine Grossbaustelle. Zur Hauptbauzeit im letzten Sommer wurde der Bahnverkehr komplett eingestellt, eine Haltestelle für Ersatzbusse war knapp einen Kilometer Fussweg entfernt. Gebaut wurde auf einer Fläche von 7550 Quadratmetern. Daneben beanspruchte die Baufirma rund 6000 Quadratmeter zusätzlichen Platz, grösstenteils für Bauumschlagplätze, aber auch für Wohn- und Aufenthaltscontainer.

Das Areal des neuen Bahnhofs ist sehr viel grösser als das des alten. Matthias Käser/Nicolas Geissbühler

Bezahlt wurde das Megaprojekt zum allergrössten Teil vom Bund, da es sich um Bahninfrastrukturen handelt. Gekostet hat es die Steuerzahlenden rund 25 Millionen. Derzeit sind die Arbeiten mehr oder weniger abgeschlossen. Es stehen noch letzte Baufahrzeuge herum, die auf den Abtransport warten.

Mittlerweile steht der neue Bahnhof Lattrigen, der rund 25 Millionen gekostet hat. Mit eingerechnet sind da auch die Mitarbeiterparkplätze der ASM und eine Fassadenreinigung eines grossen Hauses – das zum grössten Teil der ASM selbst gehört. Diese wurde durch eine Einsprache erwirkt, von wem genau, ist unklar. Andere Häuser – deren Besitzer und Besitzerinnen ebenfalls Einsprache erhoben haben – werden nicht gereinigt.

Die ASM rechtfertigte dies im letzten Jahr gegenüber dem BT damit, dass sich diese rund 200 Meter von der Baustelle entfernt befinden und damit kaum von Baustaub betroffen sein dürften. Obschon einige davon nur wenige Zentimeter von einem viel befahrenen Bauumschlagplatz entfernt liegen und damit zwangsläufig ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden sein dürften.

Während der Bauarbeiten befand sich ein Bauumschlagplatz direkt neben mehreren Wohnhäusern. Matthias Käser
Diese Fassaden werden allerdings nicht gereinigt, da sie gemäss ASM zu weit von der Baustelle entfernt sind. Matthias Käser
Der Platz wurde aber rege von Baumaschinen befahren. Matthias Käser
Ein Haus – das grosse braune oben rechts – wird gereinigt, weil eine Einsprache einging. Matthias Käser
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Nicolas Geissbühler

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