Rotmilan Helios’ Weg zurück in die Wildnis
Helios ist aus dem Nest gefallen, seine Eltern kümmerten sich nicht mehr um ihn. Er kam in den Tierpark Biel, wo er aufwendig aufgepäppelt wurde. Jetzt lebt er wieder in der Wildnis.
24.07.2025, 6:29
Ein kühler Juni-Morgen auf dem Plateau de Diesse, die Sonne wärmt die Jurahöhen langsam auf. Das Hochplateau wirkt verschlafen, ein einsamer Traktor ist auf den Feldwegen unterwegs. Plötzlich hält er an und Roland Gauchat steigt aus. Er schaut vor seinem Gefährt nach, wo etwas Ungewöhnliches liegt: Es ist ein junger Rotmilan, den er Helios nennt.
Helios ist vermutlich aus dem Nest gefallen, vielleicht während eines Sturms. Nicht, dass dies grundsätzlich ein Problem wäre, Rotmilan-Mütter kümmern sich normalerweise um heruntergefallenen Nachwuchs. Nicht so aber die Eltern von Helios. Vielleicht lag Helios zu nahe an der Strasse und die Mutter hat sich deswegen nicht mehr zu ihm getraut.
Gauchat ruft seine Tochter an, die den ihr bekannten Wildhüter informiert. Dieser erscheint kurz darauf, fängt den Vogel ein und bringt ihn in die nächste Auffangstation, den Tierpark Biel. Seither ist Helios hier. Tierparkleiter Luca Bordoni hat sich in den letzten Wochen mit viel Hingabe um den Rotmilan gekümmert.
Komplizierte Pflege
Völlig entkräftet und abgemagert sei das Tier anfangs gewesen, sagt Bordoni. Aber unverletzt, bis auf ein paar fehlende Federn. Er hat bereits viel Erfahrung im Aufpäppeln und Auswildern von Wildvögeln. Bereits an seinen vorherigen Arbeitsplätzen – dem Tierpark Goldau und der Stadtvoliere Zug – hatte er immer wieder wilde Gäste, die er aufpäppeln und für die Wildnis trainieren musste.
Diese Erfahrung sei auch nötig, so Bordoni. Denn die Pflege von Helios ist äusserst aufwendig. Er ist anfangs so entkräftet, dass er nicht einmal alleine schlucken kann. So muss Bordoni die Nahrung – zu Beginn Eintagsküken – zerschneiden und dem Rotmilan weit in den Rachen schieben, vorbei am spitzen Schnabel und möglichst tief in den Hals, damit sein Atemloch nicht verstopft und das Tier nicht erstickt.
Anfangs liegt Helios nur am Boden seiner Voliere. Er ist im Lebensraum der Bartkäuze des Tierparks untergekommen, die sich nun mit etwas weniger Platz begnügen müssen. Schnell wird der Rotmilan aber stärker, bald kann er auf die Bäume klettern und dann sogar fliegen, fortan sitzt er am liebsten auf einem Ast ganz oben in der Voliere.
«Direkten Tierschutz betreiben ist das Schönste»
Dass ein Wildvogel in den Tierpark Biel kommt, ist eher selten. Normalerweise kümmern sich private Auffangstationen oder die Schwanenkolonie um solche Fälle, allerdings haben diese kaum Platz für einen Raubvogel in dieser Grösse.
Tierparkleiter Bordoni freuts: «Ein Wildtier zu pflegen und dann auszuwildern, ist etwas Wunderschönes. Eigentlich mein Lieblingsjob.» Er sieht dies als eine seiner Kernaufgaben, denn so könne er direkten Tierschutz betreiben. Da sei er auch gerne bereit, Überstunden zu leisten.
Und von denen gibt es einige: Gut eine Stunde pro Tag hat Bordoni sich mit dem Milan beschäftigt. Für die Pflege des Rotmilans erhält der Tierpark kein Geld, und Bordoni muss sich daneben auch um die anderen Tiere des Parks kümmern. Und der Tierparkleiter muss täglich zweimal in den Tierpark kommen, um den Raubvogel zu füttern – auch an den Wochenenden. «Ich hätte Nein sagen können, aber das ist meine Arbeit. Ich mache alles für das Tier.»
Sobald Helios fliegen kann, beginnt das Training für die Wildnis. Bordoni stellte die Ernährung um, von nun an bekommt der Rotmilan nur noch schwarze statt weisse Mäuse – so wie er sie auch in der Wildnis antreffen wird. Und Bordoni beginnt, den Kontakt mit dem Tier zu reduzieren, damit sich dieses nicht zu stark an Menschen gewöhnt. «Das läuft prima, der Rotmilan zieht sich von selbst immer in den hintersten Teil der Voliere zurück, wenn Menschen kommen», sagt Bordoni.
Helios ist also knapp einen Monat nach seiner «Einlieferung» bereit für die Wildnis.
Zurück in der Wildnis
Am grossen Tag fängt Bordoni seinen Schützling ein, verlädt ihn in eine Transportbox und fährt ihn auf das Plateau de Diesse, im Schlepptau die Lehrtochter und ein Mitarbeiter des Tierparks. Dort warten bereits der Wildhüter Sébastien Balmer sowie Roland Gauchat, der Finder des Milans. Alle wollen beim grossen Moment dabei sein.
Eine geeignete Stelle scheint gefunden: Ein paar Meter neben dem Fundort, auf einem Feld, in der Nähe ein Weiher und Naturschutzgebiete für eine erste Jagd auf Wildtiere.
Bordoni greift geübt in die Transportbox und nimmt den Rotmilan heraus. Der Finder Roland Gauchat ist fasziniert. Er rette schon sein ganzes Leben lang Tiere, die er verletzt finde, sagt der in der Landwirtschaft tätige 77-Jährige. Mit dem Handy dokumentiert er die Auswilderung von Helios als Erinnerung.
Ein paar letzte Fotos, dann ist es so weit: Bordoni lässt Helios los. Dieser schwingt sogleich seine grossen Flügel, gewinnt dadurch schnell an Höhe und verschwindet in den Baumwipfeln des nahe gelegenen Waldes. Die Freude über die erfolgreiche Auswilderung ist gross, man gratuliert sich mit Handschlägen.
All dieser Aufwand für einen Rotmilan, eine Tierart, die nicht bedroht, sondern weit verbreitet ist? «Klar», sagt Bordoni. Man versuche grundsätzlich, alle Tiere zu retten und sie wieder auszuwildern. Ausser, bei offensichtlich hoffnungslosen Fällen. Dem pflichtet auch der Wildhüter bei: «Wir machen keinen Unterschied zwischen den Tieren», sagt Balmer.
So gebe es wöchentlich solche Auswilderungen, vor allem im Frühjahr: Vom kleinen Singvogel über Fledermäuse bis zu grossen Säugetieren wie Rehen sei alles dabei. Rotmilane sind aber selten. In 29 Jahren als Wildhüter hat Balmer rund 15 solche Auswilderungen erlebt.
Auf Zoos angewiesen
Zoos und Tierparks seien dabei enorm wichtig, so Balmer. Diese hätten das professionelle Wissen, wie genau mit Wildtieren umgegangen werden müsse und oft auch die Infrastruktur für solche Rettungsaktionen. Die Wildhut sei auf Tierparks angewiesen, seitdem sie keine eigene Auffangstation mehr betreibt.
Zudem kann Balmer von Autos getötete Tiere als Wolfsfutter in den Tierpark bringen. «Das ist ökologisch viel sinnvoller, als sie einfach in einem Krematorium zu verbrennen», sagt der Wildhüter.
Und auch in einem weiteren Punkt ist Balmer dankbar für den Tierpark Biel: «Der Wolf ist derzeit ein sehr emotionales Thema. Und im Tierpark Biel kann man diesen Tieren sehr nahe kommen und viel über sie lernen.» Dies sei in der freien Wildbahn nicht möglich, da Wölfe sehr scheu seien.